„Ohne zu
schreiben, kann man nicht denken;
jedenfalls nicht in
anspruchsvoller, anschlussfähiger Weise.“
Niklas
Luhmann (1927 - 1998)
An dieser Stelle gibt es immer einen ausgewählten Text, der über die Tagesaktualität hinaus reicht, der kommentierenden/analysierenden Charakter hat und bereits irgendwo erschienen ist.
Diesmal: Badische Zeitung, 1. Juni 2023
Der
Mythos vom repräsentativen Bürgerrat Unser Autor war „Zufallsbürger“ beim Bürgerrat zum Thema Klimaschutz im Raum Freiburg. Tagelang diskutierte er dort mit – und hat seither Vorbehalte gegen das derzeit so populäre Instrument der Bürgerbeteiligung.
Losglück
muss man haben! Irgendwann im letzten Frühjahr lag ein Schreiben im
Briefkasten; ich war ausgewählt als „Zufallsbürger“ für einen
regionalen Bürgerrat zum Thema Klimaschutz. Welch günstige Fügung.
Klima einerseits, Bürgerrat andererseits – zwei spannende Aspekte
im Paket.
Über
das neue Instrument Bürgerrat hatte ich erstmals im Jahr 2020
geschrieben. In Frankreich hatte Präsident Emmanuel Macron einen
solchen ins Leben gerufen als Reaktion auf die Bewegung der
Gelbwesten. Er wollte die Protestbewegung besänftigen durch diesen
neuen Weg der bürgerlichen Mitbestimmung. Nun also konstituierte
sich auch in Südbaden ein Bürgerrat – und das ausgerechnet zum
Thema Klima, das mich beschäftigt, seit ich journalistisch arbeite.
Sofort war klar: Da mache ich mit.
Doch
im weiteren Verlauf erwies sich das Schreiben als ernüchternd: 4000
Menschen in der Region seien ausgelost und angeschrieben worden, aber
nur rund 100 davon würden am Ende tatsächlich ausgewählt. Die
Chance dabei zu sein, schien gering. Ich registrierte mich trotzdem.
Was ich erst später erfahren sollte: 94 Prozent der zufällig
angeschriebenen Menschen reagierten nicht auf den Brief; nur rund 230
der 4000 ausgelosten Bürger zeigten Interesse. Das verbesserte nun
zwar die Chance für jeden Bewerber erheblich, zugleich sprach es
aber der vielzitierten Repräsentativität Hohn. Wie kann ein Gremium
stellvertretend für die Masse sein, wenn nur eine kleine Auswahl der
Angeschriebenen überhaupt zur Teilnahme bereit ist?
Der
Wille zur Mitarbeit erfolgte offenkundig entlang soziodemografischer
Faktoren. So war in manchen Freiburger Stadtteilen die Resonanz
praktisch gleich null. Die Veranstalter versuchten dann zwar noch,
vor Ort auf der Straße Teilnehmer zu akquirieren, doch der Erfolg
war mäßig. Am Ende entstand aus allen Rückmeldungen ein Gremium
mit zwar repräsentativer Alterspyramide und ausgeglichenem
Geschlechterverhältnis. Doch macht das eine Gruppe schon zum
Spiegelbild einer Gesellschaft? Auch ich bekam eine Zusage, durfte
nun als einer von exakt 91 ausgewählten Einwohnern die Region im
Bürgerrat vertreten.
In
diesem trafen Menschen aus jenen 16 Gemeinden zusammen, die das
Projekt mittrugen. Die Orte reichten alphabetisch von Au bis Wittnau,
geografisch von Elzach bis Neuenburg. Dass man für dieses Vorhaben
ein gutes Maß an Leidenschaft zur Debatte würde mitbringen müssen,
war schon aus dem ersten Brief ersichtlich. Immerhin fünf Termine
galt es für alle Teilnehmer zu absolvieren, jeweils in einer anderen
Gemeinde. Zumeist waren es ganze Samstage, die dafür verplant waren.
Allein dieser Zeitaufwand dürfte für viele der zufällig
angeschriebenen Bürger ein Grund gewesen sein, den Brief schlicht zu
ignorieren.
Entsprechend
war dann die Zusammensetzung des „repräsentativen“ Gremiums: Man
traf auf jene Klientel, die man immer trifft, wenn über Fragen des
Gemeinwesens diskutiert wird; auf die vielseitig interessierten und
vielfältig engagierten Mitbürger; auf gefühlt jene Menschen, auf
deren Frühstückstisch noch eine Tageszeitung liegt.
Gleichwohl
hegen und pflegen die Anhänger geloster Bürgerräte den Mythos von
dessen Repräsentativität mit Hingabe – weil dieser Mythos für
das Konzept substanziell ist. Denn ohne die blumige Erzählung, in
diesen Gremien werde die Gesellschaft in ihrer Gänze abgebildet,
würden die angefertigten Dossiers grundsätzlich irrelevant.
Andererseits: Ein wirklich repräsentatives Gremium wäre vermutlich
auch keine Lösung – weil kaum ergiebig. Denn jede Diskussionsrunde
lebt von der Diskurswilligkeit und der Diskursfähigkeit seiner
Teilnehmer. Wer nicht bereit ist, sich der Komplexität
gesellschaftlicher Konflikte zu stellen, kann den Foren schwerlich
dienen. Insofern ist die Selbstselektion potenzieller Teilnehmer für
einen erquicklichen Diskurs dann sogar hilfreich.
Denn
auch das muss gesagt sein: Es ergaben sich an diesen Sommertagen
lebendige Debatten, weil die meisten Teilnehmer gewillt waren, sich
intensiv einzubringen. Die professionelle Moderation durch ein
versiertes Team und der Wechsel zwischen Kleingruppen und Plenum
machten die Tage kurzweilig. Zwischendrin waren Experten geladen –
eben die üblichen Verdächtigen; Namen, die man kennt in der
Region,wenn es um Energiewende geht. So gab es guten fachlichen Input
zu Fragen des Klimaschutzes. Wer noch mehr wissen wollte, konnte zu
definierten Zeiten weitere Experten telefonisch kontaktieren. Alles
minutiös geplant.
Und
dennoch – oder gerade deswegen – habe ich seither Vorbehalte,
wenn die Forderung erhoben wird, Bürgerräte sollten künftig als
vermeintlich repräsentatives Beratergremium auf die Politik
einwirken. Denn im Verlauf der Debatten wurde deutlich, wie
geschmeidig Bürgerräte durch die Auswahl der geladenen Experten und
die Moderation zu lenken sind.Was würde das bei wirklich
umstrittenen Themen bedeuten? Man stelle sich vor, ein Bürgerrat
würde über ein so kontroverses Thema, wie die Atomkraft beraten.
Oder gar über die Migration. Wer würde dann die Experten aussuchen?
Kämen wirklich alle Sichtweisen gleichermaßen zu Wort? Und wie
neutral kann – und soll – ein Moderationsteam sein? Im Grundsatz
klingt es immer so unbefangen, wenn etwa auch der Verein „Mehr
Demokratie e. V.“ betont, die Teilnehmer von Bürgerräten bekämen
„Informationen zum jeweiligen Thema“ von Experten und die
Diskussionen würden „professionell moderiert“. Doch was bedeutet
solche professionelle Steuerung für die Meinungsbildung und am Ende
für die gemeinsamen Handlungsempfehlungen?
Beim
Freiburger Bürgerrat kam natürlich auch nichts anderes heraus, als
das, was die geladenen Experten zuvor vorgeschlagen hatten. Eigene
Ideen aus dem Gremium heraus waren spärlich und wenn sie aufkamen,
hatten sie in der Schlussabstimmung keine Chance. 48 Empfehlungen gab
der Rat schließlich ab, viele reichlich banal und vermutlich exakt
von eben jener Machart, wie von den Kommunen intendiert. Die
Linientreue, so der Eindruck, ist diesem Beteiligungsformat inhärent.
Weil auch Politiker das wissen, machen sie sich diese Konformität zu
nutze. Sie installieren das Gremium vermutlich nicht etwa, um auch
konträre Ideen präsentiert zu bekommen. Sie tun es wohl vielmehr in
der Hoffnung, dass der Bürgerrat exakt jene altbekannten Forderungen
erheben werde, die diese Politiker gerne umsetzen möchten – was
ihnen dann, so das Kalkül, erleichtert wird, weil die Forderungen ja
auch in einem angeblich repräsentativen Bürgergutachten stehen.
So
waren auch beim südbadischen Projekt die Themen in engem Rahmen
definiert. Den Verkehr zum Beispiel hatten die kommunalpolitischen
Initiatoren von vorneherein ausgeklammert.Was schade war, weil sich
nirgendwo sonst so schnell und ohne große Investitionen so viel CO2
vermeiden lässt, wie im Verkehrssektor. Als Journalist gewohnt, zu
hinterfragen, stellte ich in den Raum, ob wir als Bürgerrat nicht
selbstbewusst genug seien, um uns auch ungefragt zu Verkehrsthemen zu
positionieren. Die Resonanz war dürftig – die Mehrheit schreckte
vor Akzenten dieser Art zurück.
Genau
diese Berechenbarkeit der Bürgerräte dürfte ein wesentlicher Grund
dafür sein, dass Politiker eine wachsende Leidenschaft für dieses
Format entwickeln. Nun hat jüngst
der
Bundestag beschlossen, einen Bürgerrat zum Thema „Ernährung im
Wandel“ einzusetzen. Man kann vermuten: Es wird auch dort im
Wesentlichen herauskommen, was die Experten vorschlagen, was die
Moderatoren zusammenführen und was die Initiatoren hören möchten.
Vermutlich
erhoffen sich Politiker mit den Bürgerräten, den zunehmenden
Gestaltungswillen einer selbstbewussten Bürgerschaft einzuhegen.
Diese These bestätigten die Grünen durch einen bemerkenswerten
Schritt: Im November 2020 nahm deren Parteitag die Forderung nach
ausgelosten Bürgerräten ins Grundsatzprogramm auf. „Direkte
Beteiligungsmöglichkeiten“, so heißt es seither darin,
„bereichern die repräsentative Demokratie.“ Zugleich jedoch –
und das ist das Pikante – tilgten die Grünen die Forderung nach
Einführung bundesweiter Volksentscheide, die 40 Jahre lang ein
Markenkern der Partei war. Nun sollen also Bürgerräte zum
pflegeleichten Substitut einer wirklichen Basisdemokratie werden.
Die Grünen sind damit nicht allein, auch die FDP hat sich schon für
solche Gremien ausgesprochen und im Koalitionsvertrag wurden sie
ebenfalls verankert. Bizarr wird es allerdings dort, wo die
SPD-Bundestagsfraktion in diesem Kontext den alten
Willy-Brandt-Slogan „Mehr Demokratie wagen“ zitiert – weil ein
ausgeloster Bürgerrat eben gerade nicht demokratisch ist, sondern
für die Parteien vor allem eines: bequem. Er ist lenkbar, bietet
damit wenig Überraschung und schafft um Welten weniger Mitbestimmung
als ein Volksentscheid.
Basisdemokratische
Abstimmungen können die Politik durchrütteln, ein Bürgerrat vermag
das nicht. Simulierte Partizipation durch Installation eines
pseudorepräsentativen Gremiums mit dem Ziel, die lauter werdenden
Forderungen nach Volksentscheiden zu hintertreiben – dieser
Eindruck vom Instrument Bürgerrat verbleibt nach den Debatten an
sommerlichen Samstagen in südbadischen Mehrzweckhallen und
Schulgebäuden. Kurzweilig waren die Tage allesamt, wohl wahr. So
gesehen gibt’s also nichts zu bereuen. Aber als Instrument der
politischen Entscheidungsfindung ist das Format in höchstem Maße
problematisch.